Masse und Maßlosigkeit

Andre­as Platt­haus, Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 17.März 2021
-
29. 11. 2040

Verstörend offen, vertröstend persönlich: Florian Havemanns Romansolitär „Speedy“ fordert die literarische Bequemlichkeit heraus.

„Ein Glücks­tag, dieser 30. Januar 1933.“ Wenn eine seiner­zeit in Berlin leben­de Roman­fi­gur diesen Glücks­seuf­zer ausstö­ßt, möchte man in ihr einen stram­men Natio­nal­so­zia­lis­ten vermu­ten. Das Gegen­teil ist der Fall: Rudolf Schlech­ter, der Ich-Erzäh­ler in Flori­an Havemanns „Speedy“, sitzt zu Beginn der Hand­lung in NS-Unter­su­chungs­haft. Da sind wir aller­dings schon einige Jahre weiter, Ende der drei­ßi­ger Jahre, auf dem Höhe­punkt von Hitlers Macht. Anfangs hatte Schlech­ter sich als Maler eini­ges vom neuen Regime verspro­chen, doch die von ihm präfe­rier­te Neue Sach­lich­keit galt den Macht­ha­bern dann doch nicht wie erhofft als Fort­set­zung der urdeut­schen Roman­tik. „Artig – Gutar­tig – Abar­tig – Bösar­tig – Schlecht­ar­tig – Schlech­ter­ar­tig – Entar­tet“, so leitet Rudolf Schlech­ter mitt­ler­wei­le das offi­zi­el­le Urteil über seine Kunst her. Und der private Lebens­wan­del des Malers entspricht gar nicht natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Idea­len. Seiner nympho­ma­ni­schen Frau Elfrie­de Elisa­beth Koeh­ler, genannt Speedy, ist er hörig, er selbst zieht Lust aus Traves­tie.

Will­kom­men in einem Roman der sozia­len und sexu­el­len Abgrün­de. Will­kom­men auch in diesem Roman selbst, der schon vor andert­halb Jahr­zehn­ten geschrie­ben, aber von diver­sen Verla­gen abge­lehnt wurde und erst nach einem vehe­men­ten Plädoy­er des Schrift­stel­lers Clemens Setz in der Frank­fur­ter Allge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung endlich doch noch erschei­nen konnte: vergan­ge­nen Herbst im Europa Verlag, nicht eine der ersten lite­ra­ri­schen Adres­sen im Lande, aber nunmehr mit großem Verdienst an der deut­schen Lite­ra­tur.

Wieso hat dann diese Rezen­si­on so lange auf sich warten lassen? Weil es sich um ein inhalt­lich wie formal maßlo­ses Werk von fast 850 Seiten handelt (die bei norma­ler Schrift­grö­ße und übli­chem Satz­spie­gel weit über tausend gekom­men wären). Diesen Roman liest man nicht einfach weg, dazu ist er zu inten­siv, auch zu persön­lich, es empfiehlt sich eine Lektü­re in homöo­pa­thi­schen Dosen, um die Patho­lo­gie seines Gegen­stands ertra­gen zu können. Den kann man beschrei­ben als das Schick­sal eines Einzel­nen, der aus allen Rastern fällt in einer Gesell­schaft, die nur in Rastern denkt und alles andere ausmer­zen will. Dass der Roman trotz­dem „Speedy“ heißt, liegt an der Obses­si­on Rudolf Schlech­ters für diese Frau. Denn es ist auch der Roman einer großen Phan­ta­sie­leis­tung, mit der sich der Maler aus seinem Elend rettet: Er schreibt im Buch einen Roman mit dem Titel „Speedy“. Die Gren­zen zwischen Inhalt und Form verwi­schen bei Havemann wie bei Schlech­ter die Gren­zen zwischen den Geschlech­tern.

Das Buch hat einen wahren Kern: das Leben des Malers Rudolf Schlich­ter (1890 bis 1955), der durch den Austausch eines einzi­gen Buch­sta­bens verfrem­det wird, während ansons­ten alle Figu­ren von Speedy über George Grosz und Ernst Jünger bis zu Göring, Goeb­bels, Hitler ihre Klar­na­men tragen. Was an biogra­phi­scher Recher­che und ästhe­ti­schen Über­le­gun­gen zur Kunst­ge­schich­te in diesen Roman einge­gan­gen ist, kann man gar nicht hoch genug veran­schla­gen, doch das, was ihn ausmacht, ist die scho­nungs­lo­se eroti­sche, aber dabei nie porno­gra­phi­sche Offen­heit seines Ich-Erzäh­lers. Es gibt im dialek­ti­schen Verzweif­lungs­ver­hält­nis von Tag- und Albtraum eines sexu­ell ausge­grenz­ten Trans-Mannes nur eine erzäh­le­risch an ihn heran­rei­chen­de Bezugs­grö­ße: „Der Kuss der Spin­nen­frau“ von 1985 nach Manuel Puigs gleich­na­mi­gem Roman. Beide feiern in den Phan­ta­sie­ex­zes­sen ihrer Figu­ren deren Frei­heit, die sexu­ell nicht ausge­lebt werden darf, ja offi­zi­ell bekämpft wird. Doch die Vorstel­lungs­kraft trium­phiert über die Unter­drü­ckung.

Man müsste diesen Roman von insge­samt 276 Kapi­teln so detail­liert und ausufernd bespre­chen, wie er selbst ist, aber das spreng­te wie er auch jedes Maß. „Speedy“ wird als großer Soli­tär in die deut­sche Lite­ra­tur­ge­schich­te einge­hen, er wird das Publi­kum spal­ten, Beifall falscher Freun­de und Ableh­nung beque­mer Leser ernten. Aber man muss ihn lesen. Derglei­chen Leiden­schaft gibt es einmal alle paar Jahr­zehn­te. 

Weitere Einträge

Datenschutzeinstellungen

Diese Seite nutzt Cookies. Alle von ihnen sind essenziell um die Funktionen der Seite zu gewährleisten.