Verstörend offen, vertröstend persönlich: Florian Havemanns Romansolitär „Speedy“ fordert die literarische Bequemlichkeit heraus.
„Ein Glückstag, dieser 30. Januar 1933.“ Wenn eine seinerzeit in Berlin lebende Romanfigur diesen Glücksseufzer ausstößt, möchte man in ihr einen strammen Nationalsozialisten vermuten. Das Gegenteil ist der Fall: Rudolf Schlechter, der Ich-Erzähler in Florian Havemanns „Speedy“, sitzt zu Beginn der Handlung in NS-Untersuchungshaft. Da sind wir allerdings schon einige Jahre weiter, Ende der dreißiger Jahre, auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht. Anfangs hatte Schlechter sich als Maler einiges vom neuen Regime versprochen, doch die von ihm präferierte Neue Sachlichkeit galt den Machthabern dann doch nicht wie erhofft als Fortsetzung der urdeutschen Romantik. „Artig – Gutartig – Abartig – Bösartig – Schlechtartig – Schlechterartig – Entartet“, so leitet Rudolf Schlechter mittlerweile das offizielle Urteil über seine Kunst her. Und der private Lebenswandel des Malers entspricht gar nicht nationalsozialistischen Idealen. Seiner nymphomanischen Frau Elfriede Elisabeth Koehler, genannt Speedy, ist er hörig, er selbst zieht Lust aus Travestie.
Willkommen in einem Roman der sozialen und sexuellen Abgründe. Willkommen auch in diesem Roman selbst, der schon vor anderthalb Jahrzehnten geschrieben, aber von diversen Verlagen abgelehnt wurde und erst nach einem vehementen Plädoyer des Schriftstellers Clemens Setz in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung endlich doch noch erscheinen konnte: vergangenen Herbst im Europa Verlag, nicht eine der ersten literarischen Adressen im Lande, aber nunmehr mit großem Verdienst an der deutschen Literatur.
Wieso hat dann diese Rezension so lange auf sich warten lassen? Weil es sich um ein inhaltlich wie formal maßloses Werk von fast 850 Seiten handelt (die bei normaler Schriftgröße und üblichem Satzspiegel weit über tausend gekommen wären). Diesen Roman liest man nicht einfach weg, dazu ist er zu intensiv, auch zu persönlich, es empfiehlt sich eine Lektüre in homöopathischen Dosen, um die Pathologie seines Gegenstands ertragen zu können. Den kann man beschreiben als das Schicksal eines Einzelnen, der aus allen Rastern fällt in einer Gesellschaft, die nur in Rastern denkt und alles andere ausmerzen will. Dass der Roman trotzdem „Speedy“ heißt, liegt an der Obsession Rudolf Schlechters für diese Frau. Denn es ist auch der Roman einer großen Phantasieleistung, mit der sich der Maler aus seinem Elend rettet: Er schreibt im Buch einen Roman mit dem Titel „Speedy“. Die Grenzen zwischen Inhalt und Form verwischen bei Havemann wie bei Schlechter die Grenzen zwischen den Geschlechtern.
Das Buch hat einen wahren Kern: das Leben des Malers Rudolf Schlichter (1890 bis 1955), der durch den Austausch eines einzigen Buchstabens verfremdet wird, während ansonsten alle Figuren von Speedy über George Grosz und Ernst Jünger bis zu Göring, Goebbels, Hitler ihre Klarnamen tragen. Was an biographischer Recherche und ästhetischen Überlegungen zur Kunstgeschichte in diesen Roman eingegangen ist, kann man gar nicht hoch genug veranschlagen, doch das, was ihn ausmacht, ist die schonungslose erotische, aber dabei nie pornographische Offenheit seines Ich-Erzählers. Es gibt im dialektischen Verzweiflungsverhältnis von Tag- und Albtraum eines sexuell ausgegrenzten Trans-Mannes nur eine erzählerisch an ihn heranreichende Bezugsgröße: „Der Kuss der Spinnenfrau“ von 1985 nach Manuel Puigs gleichnamigem Roman. Beide feiern in den Phantasieexzessen ihrer Figuren deren Freiheit, die sexuell nicht ausgelebt werden darf, ja offiziell bekämpft wird. Doch die Vorstellungskraft triumphiert über die Unterdrückung.
Man müsste diesen Roman von insgesamt 276 Kapiteln so detailliert und ausufernd besprechen, wie er selbst ist, aber das sprengte wie er auch jedes Maß. „Speedy“ wird als großer Solitär in die deutsche Literaturgeschichte eingehen, er wird das Publikum spalten, Beifall falscher Freunde und Ablehnung bequemer Leser ernten. Aber man muss ihn lesen. Dergleichen Leidenschaft gibt es einmal alle paar Jahrzehnte.
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